“Der Busch zwischen den Zehen”

Thomas Langhoffs Inszenierung “Die Übergangsgesellschaft” von Volker Braun von 1988.

Eine Wiederbegegnung.

Sie gilt als eine der großen Inszenierungen der späten DDR: Volker Brauns Tschechow-Überschreibung “Die Übergangsgesellschaft”. Eine Ansicht der bleiernen Zeit, ein Stagnationsbild. 1988 am Maxim Gorki Theater Berlin aufgeführt, während der kalte Sound von “No Future” die Straßen und Hinterhöfe erfüllte, während die Häuser grau und grauer wurden, während die Jugend längst mit dem Staat und seinen Erlösungsversprechen abgeschlossen hatte. Die Bürgerbewegungen klopften schon an die Tür, in Polen wirkte die freie Gewerkschaft Solidarność als Fanal im Untergrund. Sie war 1982 verboten worden, dem Jahr als Volker Braun sein Stück schrieb.

Die 1990 entstandene Fernsehaufzeichnung der Inszenierung von Thomas Langhoff ist ein Dokument der Vorwende- und der Nachwendezeit zugleich, ein Bild der verblassenden Zukunftshoffnungen, die sich mit dem Versprechen des Sozialismus verbanden. Eigentlich ein Abgesang. Es ist deutlich zu sehen, wie die Fernsehfassung die Bühnenfassung kommentiert, wie sie noch einmal in sich selbst hineinhört, nach Antworten sucht. Und wie bei jedem Dokument sind der Inszenierung zahlreiche Spuren eingeschrieben, nicht zuletzt solche, derer man sich seinerzeit kaum bewusst war, sichtbare Flecken, blinde Flecken.

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Wo die Köpfe rollen

28. Februar 2023. Wir klauen euch das hier jetzt alles. Nehmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Und alles, was wir hören und sehen können auch. Eure Paläste mögen verrammelt sein – doch, wo ein Wille, da ist ein Weg … Wir tragen es in unsere Kneipen, unsere Stuben, “umdüstert vom traulichen Dunkel des Tabakqualms” findet ihr uns: “Eine höchst anziehende Gesellschaft vor einer kleinen Bühne versammelt. Kutscher, Köchinnen, Kinder, Handwerksburschen, vorzüglich aber Mitglieder des Soldatenstandes und Studenten harren mit gespannter Neugier auf das Emporrollen des Vorhangs  …” (Anonym, Berliner Puppenspiel, 1835).

Neben einer Fülle an eigenen Erfindungen und Kreaturen, war das europäische Puppenspiel immer auch die buchstäbliche Piraterie an der Hochkultur.

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von dingen, die ich dir erzählte, als wir uns noch nicht kannten …

| Deutschland – Frühling 2022 | Nürnberg | ehemaliges Reichsparteitagsgelände | Kongresshalle | Innen |

So, sind Sie nun endlich bereit, hier hinein ins Dunkel zu treten? Ins Herz der Finsternis, dessen unverwechselbaren Schlag Sie sofort erwarteten wiederzuerkennen?

Nein. Nein, Sie werden ihn nicht wiedererkennen … Und, wer sagt denn, das Herz dieses Ortes hätte einen unverwechselbaren Schlag? … wie könnte dieser Ort überhaupt ein Herz haben …?

Da ist jetzt dieses Unbehagen, nicht wahr? Oder doch AngstLust?

Waren sie mal in London? In diesem Wachsfigurenkabinett? Genannt The London Dungeon? Nein? Ja? … Da wird zu jeder vollen Stunde eine öffentliche Hinrichtung während der Französischen Revolution nachgespielt. The Terror! Perfektes Bühnenbild. Marktplatz in Paris. Soundkulisse. Originalgetreu kostümierte Schauspieler. Auftritt des Henkers. Die Guillotine ist präpariert. Das Opfer steckt schon in der … Holzkrause. Das Todesurteil wird verlesen. Der Ausrufer zählt von zehn rückwärts … sechs, fünf, vier … drei, zwei … und … zack wird es stockdunkel. Etwas Nasses, Warmes hat sie berührt, bespritzt … läuft über ihr Gesicht. Sie spüren die Feuchtigkeit durch den Stoff Ihrer Kleider. Sie können nichts sehen. Sie wagen es nicht zu atmen. Sie wollen nicht, dass es wieder hell wird. Sie wollen nicht sehen, womit Sie bespritzt wurden. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Es wird Licht. Das können Sie trotz Ihrer zusammen gekniffenen Augen wahrnehmen. Sie müssen Ihre Augen öffnen, Sie wollen wissen … Und dann: Nichts! Ein paar Tropfen warmes Wasser in Ihrem Gesicht. Ein paar feuchte Flecken auf Ihrer Bluse … Infinte Jest! Unendlicher Spaß!

Oh, jetzt denken Sie, ich quäle Sie mit Erinnerungen. Nein, Sie quälen sich selbst mit Erinnerungen. Mit Erinnerungen die nicht einmal Ihre eigenen sind. Sie denken, Sie erinnern sich an das Sterben, an das Vernichten, dessen Klang, wie Sie glauben, sich hier eingeschrieben hätte und nun für alle Zeit wieder und wieder und wiederhallen würde. Sie tragen über Ihrem Herzen Erinnerungsorden. Stolz, voller Pathos tragen Sie diese falschen, blechernen Fragmente und rauben den Toten, den Vernichteten ihre Erinnerungen. Das hier, das hier alles gehört Ihnen nicht. Sie sind nicht tot, nicht für immer vernichtet.

Und Sie werden hier auch das Mädchen im roten Mantel nicht finden. Das zerfrisst Sie. Sie ersticken an Ihrer Trauer. Einer Trauer, die Sie sich gestohlen haben. Einer Tauer auf die keine Erlösung folgt. So wächst der Zorn in Ihnen. Hass breitet sich in Ihnen aus, bis Sie erkennen, dass Ihre Trauer, Ihr Zorn, Ihr Hass Sie vergiftet und Sie sich nichts mehr wünschen, als dass das Mädchen im roten Mantel nie existiert hätte …

Hier war ‘mal ein Italiener. Der hat hier als Packer für dieses Versandhaus gearbeitet. Er gab sich als Grieche aus. War aber eigentlich Türke. Die wollte hier aber keiner. Griechen irgendwie schon. Vielleicht wegen der goldenen Morgenröte … oder was weiß ich … Er erzählte mir von seiner ersten Liebe … Amy. Ich glaube ja, er hat sich den Namen ausgedacht. Er war gerade in New York angekommen. Wohnte in einer dieser billigen Absteigen in Hell’s Kitchen. Er kam von der Nachtschicht zurück. Unten von Red Hook, vom Hafen. Hat sie in der leeren Badewanne vorgefunden. Da saß sie, angezogen mit ihrem besten Kleid und ihrem besten Mantel und weinte und zitterte am ganzen Körper … erzählte, sie sei am Nachmittag im Theater gewesen. Drüben in Midtown, im theatre district … Er sprach das immer ganz bedeutungsvoll aus … Und, irgendwie gab es da ein Stück über dieses Mädchen, die sich mit ihrer gesamten Familie auf dem Dachboden irgendwo in Amsterdam versteckt hatte … Naja, weil sie … eben … Juden waren …

Lonoff – genau so hieß der Typ. Lonoff! Vornamen hab ich vergessen. Irgendwas mit E. oder I. … Lonoff, jedenfalls, versuchte sie zu beruhigen. Wusste gar nicht wie das ging … Irgendwann fing sie an zu reden. In der Badewanne. In New York. Mit einem wildfremden Mann.

Es lag wohl nicht am Stück – das hätte sie ohne weiteres ansehen können, wäre sie allein gewesen. Es lag an den Zuschauerinnen, die es zusammen mit ihr ansahen. Ganze Busladungen von Frauen fuhren vorm Theater vor, Frauen im Pelzmantel, mit teuren Schuhen und teuren Handtaschen. Sie dachte, dass hält sie nicht aus. Die Theaterzettel, die Photos, die großzügige, von unzähligen kleinen Lampen beleuchtete Überdachung des Eingangs – das alles hätte ihr nichts ausgemacht. Die Frauen waren es, die ihr Angst machten. Doch anstatt zu fliehen, zeigte sie ihre Eintrittskarte vor, ging zusammen mit den bepelzten Frauen hinein, und da ist es dann passiert: Alle weinten. Und als die Gestapo die versteckte Tür zum Dachboden fand, schrie eine Frau in der Reihe hinter ihr: „Oh, nein!“ Das war der Moment. Sie wollte auf die Bühne springen und rufen: „Ich bin doch noch am Leben! Keine Sorge, ich habe überlebt. Ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre alt und es geht mir sehr gut. Ich habe überlebt!“ Aber wie hätte sie das machen sollen, ohne den älteren Damen in dem riesigen Theatersaal ihren einzigen Lebenszweck zu nehmen? Diesen älteren jüdischen Damen aus Newark in New Jersey, die jeden Sonntagmorgen mit dem 9.20-Uhr-Express-Shuttle nach Midtown, N.Y. fuhren, um sich im Cort Theatre „The Diary of Anne Frank“ anzuschauen? Diesen Frauen, die jeden Sonntag sechs Millionen Tränen weinten? Sechs Millionen! Wie hätte sie das tun können?

Ich glaube, Lonoff hat das in irgendeinem Buch gelesen … oder er hat sich die Geschichte ausgedacht. Es muss ihm viel bedeutet haben, so oder so … Lonoff! … Weil, er war Armenier, wissen Sie? Armenier mögen so Überlebensgeschichten … naja …

Sie sagen, die Wahrheit sei bedeutungslos; dass in dieser Welt nur eines zähle: der Anschein der Wahrheit. – Ich fürchte, sie könnten Recht haben …

In letzter Zeit scheint mir Wahrheit so schwer fassbar. Oftmals nur eine Einbildung … etwas Imaginiertes. Aber es bleibt uns nichts anderes … letzten Endes, oder? Was real ist, was wir schmecken, berühren, fühlen können … die Worte die wir wechseln, während wir uns in die Augen schauen, sind alles, was wir haben, um einander festzuhalten, uns aneinander zu klammern, nicht wahr?

Die Wahrheit bedeutet mir sehr viel.

Früher, als ich noch konnte, reiste ich viel. Ich musste lernen, dass der Begriff „Held“ nicht überall auf ungeteilte Anerkennung stößt. Nicht in allen Zeiten und nicht in allen Sphären, nicht in allen Gesellschaften und nicht in allen Kulturen. Mitunter ging und geht man mit heroischen Aspekten äußerst zurückhaltend um. Doch manchmal denke ich: „Merkwürdig – diese herophoben Kulturen.“ Sie hegen Misstrauen gegen jegliche heroischen Tugenden … Offenbar, so begann ich zu begreifen, weil hier ganze Generationen junger Männer mit derartigen … wie lässt sich das fassen …?

–             SCHLAG-wörtern

… angelockt wurden. Angelockt, um für ihre Herkunftsgesellschaft zu kämpfen. Sie mussten, so vermute ich, schnell erkennen, dass sie nicht ihren eigenen Kampf kämpften.

Natürlich kennen auch solche Kulturen Heldentypen. Doch handelt es sich eher um unprätentiöse, zurückhaltende Charaktere. Länger, deutlich länger, als die Heldentypen anderer Kulturen zögern sie, dem Ruf des Abenteuers zu folgen. Und wenn sie es schließlich tun, dann nicht ohne Einwände. Es scheint, als wollten sie sich nicht mit dem Nimbus des Heroismus anfreunden … Sie haben schöne Wörter: Nimbus!

In manchen Kulturen gilt es als ungehörig, sich in den Mittelpunkt zu drängen, sich dem BlitzLichtGewitter hinzugeben. Wer dies tut gilt als überheblich und wird … wie würden Sie sagen …?

–             ZurückGESTUTZT!

Bewundernswert ist ein Held, der die heroische Rolle so lange wie möglich ablehnt und es vermeidet, über seine Person hinaus Verantwortung zu übernehmen.

Es gibt hier ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zum bereits erwähnten Begriff „Held“. Auch wenn die Ursprünge dieser Ambivalenz gänzlich woanders zu suchen sind. Darum, so scheint es, pflegen Sie hier eher das Epigonale … Die Deutsche Kultur! Die Kultur der Nachgeborenen!

Meine Studien ergaben zwar … sie haben wirklich prächtige Archive … meine Studien ergaben, dass es hier eine weit zurückreichende Tradition der Helden- und auch Heldinnenverehrung gibt, doch diese … wie nennen Sie es …?

–             WeltKriege!

… richtig. Und dann noch diesen …?

–             FaschisMus!

… Diese … Erfahrungen, jedenfalls, machen es Ihnen … also, den Deutschen, fast unmöglich, unvoreingenommen mit dieser Tradition umzugehen … Wie konnten Sie … also … ähm … die Deutschen zulassen, die Symbole des Heldenmythos für ihre Zwecke zu missbrauchen? Wie konnten Sie DAMIT Unterwerfung, Entmenschlichung und Zerstörung heraufbeschwören? Sicher, wie jeder Archetypus, jede Philosophie oder Weltanschauung … warum haben Sie so schöne Wörter? … wie all … DAS kann auch die Gestalt des Heros manipuliert und mit verheerender Wirkung für ideologische Zwecke eingesetzt werden. – Wie konnten Sie das zulassen? Wussten Sie das nicht? Oder wollten Sie das? … Sie wollten das!

–             Erbsünde? Kontaktschuld? Vielleicht haben Sie gelernt. Vielleicht ertragen Sie das nur nicht mehr: diese Glorifizierung der Selbstaufopferung.

Selbstaufopferung war auch eines dieser schönen Wörter, denen ich begegnet bin … Hingabe, Großmut, Duldsamkeit …

–             Sonntagsreden …

Ich war immer davon ausgegangen, dass ein einzelner Mensch etwas bewegen kann, dass wir mitunter eines Helden bedürfen, um Dinge zu ändern, und dass Veränderung grundsätzlich eine gute Sache ist.

–             Die Welt ist nun einmal wie sie ist. Jeder Versuch sie zu verändern ist reine Zeitverschwendung. Und Ihre sogenannten Helden, die sich dem widersetzen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Und noch immer dieser Hang zum Romantizismus …

–             Eher ein Anklang von unsentimentalem Realismus. Der wird hier deutlich bevorzugt.

Heroische Anstrengungen zur Veränderung scheinen in Ihrer Welt, in Ihrer Kultur nurmehr zynisch betrachtet zu werden …

Hier unten hat ‘mal einer ‘ne Rede gehalten … Ja, ja, genau hier unten … Eine richtige Rede. Also erst habe ich gedacht, da wollen sich zwei duellieren. Beide trugen Uniformen. Und der eine hat rumgebrüllt. Er meinte, er will Antworten und er habe das Recht auf die Wahrheit. Und dann legte der andere los:

„Sie können die Wahrheit doch gar nicht vertragen. Wir leben in einer Welt voller Mauern und diese Mauern müssen von Männern mit Gewehren beschützt werden. Und wer soll das tun? Sie? Sie? Ich trage eine größere Verantwortung, als es für Sie überhaupt vorstellbar ist. Sie weinen um Ihren Kameraden und Sie verfluchen das Militär. Sie genießen den Luxus … Sie genießen den Luxus, nicht zu wissen, was ich weiß, dass der Tod Ihres Kameraden zwar tragisch ist, aber wahrscheinlich Leben gerettet hat und dass meine Existenz, obwohl Sie Ihnen grotesk vorkommt und unverständlich ist, Leben rettet. Sie wollen das nicht wahrhaben, denn tief in Ihrem Inneren, aber das sagen Sie nicht auf Partys, wollen Sie, dass ich an dieser Mauer stehe. Sie brauchen mich an dieser Mauer … Wir stehen zu Worten wie Ehre, Codex, Loyalität. Für uns sind diese Worte das Fundament eines Lebens das wir leben, um etwas zu verteidigen. Für Sie sind das nur Sprüche. Ich habe weder die Zeit noch das Bedürfnis, mich hier zu verantworten, vor Menschen die unter die Decke jener Freiheit schlüpfen, die ich den Menschen täglich gebe und die dann die Art anzweifeln, wie ich das mache. Ich würde es vorziehen, wenn Sie nur „Danke“ sagen und dann weiter gehen würden. Andernfalls schlage ich vor, dass Sie eine Waffe in die Hand nehmen und die Wache übernehmen. Auf jeden Fall ist es mir vollkommen egal, was Sie denken, wozu Sie ein Recht hätten.“

Aber vielleicht war das gar nicht echt. Vielleicht war das nur gespielt … wie drüben am Ring beim Kartäusertor …

Vergeblich zerquäle ich mir das Hirn mit der Wahnidee, Uhren und Kalender zurückzudrehen, bis der Augenblick wiederkehrt, bevor geschah, was nicht hätte geschehen dürfen.

Bin ich nur ein kleines Steinchen in einem hochkomplizierten Spiel, ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe, so klein, dass man mich eigentlich gar nicht wahrnehmen dürfte?

Tatsächlich war festgelegt worden, dass ich hier durchkommen sollte, ohne Spuren zu hinterlassen. Dabei hinterlasse ich dauernd Spuren: Ich hinterlasse Spuren, wenn ich mit niemandem rede, da ich mich dann als einer bemerkbar mache, der seinen Mund nicht auftun will; ich hinterlasse Spuren, wenn ich mit jemandem rede, da jedes ausgesprochene Wort ein bleibendes Wort ist, das später zurückkommen kann …

Und dann ist da wieder dieses Kind, dieser kleine Junge … Manchmal sind es sieben. Sie tragen so kleine goldene Krüge … Ihre dünnen Arme zittern … Sie weinen … Und dieser eine Junge … er läuft ganz vorn. Er trägt einen weißen Schal mit so roten eingestickten Bildchen … Blumen oder Gesichter … Und er ruft: „MUTTER, DU ARME MUTTER! ICH BRINGE AUS DEN FLAMMEN DES VATERS LEIB. EINE LAST NICHT LEICHT IM BANNE DER SCHMERZEN. VEREINT IN KLEINEM GEFÄSS; MEIN ALLES!“

… und ich weiß nicht, wer das ist. Ich weiß nicht, wer das ist. Ich weiß nicht, wer das ist.

Irgendetwas muss mir in die Quere gekommen sein: Eine falsche Auskunft. Eine falschverstandene Anordnung. Oder es ist dieses kleine Stückchen Papier? Die Schrift ist völlig verschmiert. Nicht mehr zu entziffern. So oft habe ich es zerknüllt und wieder geglättet. Und doch bedrückt es mich. Wobei unklar ist, ob aus Angst es zu verlieren, oder weil ich es immer noch nicht erwarten kann, es loszuwerden. Inzwischen brennt es, wenn ich es in meinen Händen halte. Oder mein Herz schmerzt, wenn ich es in der Brusttasche verberge. Nein, das ist Blödsinn! Wie könnte denn mein Herz schmerzen?

Ich bin einer, der überhaupt nicht auffällt. Eine unauffällige Person vor einem unauffälligen Hintergrund.

Und wenn Sie nicht anders können, als mich wahrzunehmen, dann nur, weil ich hier Ich genannt werde. Und das ist das Einzige, was Sie von mir wissen. Bisher sahen Sie mir zu, wie ich hin und her lief und von Dingen sprach, die ich gebeten wurde zu sprechen. Ich erhalte Instruktionen, sagen wir ruhig Befehle, von denjenigen, die mich hierhingeschickt haben. Es ist klar, dass ich von anderen abhängig bin. Sehe ich aus, wie einer, der sich aus Privatgründen hierher begeben hätte?

Das Ich ist ein perfider Trick. Ich ist prescripted. Ich ist die Rechtfertigung, über mich zu sprechen ohne mich selbst sprechen zu lassen. Ein anderes Ich versteckt sich hinter mir.

Das ist wie Zuhören, wenn jemand etwas vorliest. Das ist ganz anders als selber lesen. Wenn du selber liest, kannst du dir Zeit nehmen oder einfach über die Sätze fliegen. Wenn jemand vorliest, musst du dich ständig bemühen, deine Aufmerksamkeit mit seinem Lesetempo in Einklang zu bringen. Mal liest er dann zu schnell oder zu langsam. Alles wird immer unschärfer, vorläufiger. Es ist wie ein Schwanken und Zögern. Wörter fallen über einander her. Du wirst zu etwas Ungreifbarem. Etwas zugleich Vorhandenem und Nichtvorhandenem.

Vermutungen reihen sich an Vermutungen. In langen Absätzen ohne jeglichen Dialog. Eine bleierne, trübe Dichte, in der ich unbemerkt bleiben kann und verschwinden.

Manchmal, ganz langsam kommt dann da drin etwas in Bewegung, ins Laufen … zwischen diesen Sätzen …

Die Wahrheit bedeutet mir sehr viel.

War doch nie ein Freund von Routine. War doch nie jemand, der sich von Anderen zu etwas zwingen lässt.

Nein!

Ich bin friedlich. Ich bin liebevoll. Aber ich bin nicht wie die Anderen. Bin ich nicht. Ich bin nicht wie die Anderen. Und ich werde mich nicht nach den Anderen richten. Das ist falsch. Das ist nicht normal.

Nein! Nein!

Waren Sie beim Militär? Ja? Nein? Alles klar … alles klar. Für mich wäre das nichts … Danke für Ihren Einsatz … Nein! Ja?!

Sind Sie schon einmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufgewacht und haben sich das schlimmste Szenario ausgemalt, das überhaupt vorstellbar ist?

Sie reiten oben über den Damm. In gestrecktem Galopp. Aus dem Dünenwald kommt wie aus dem Nichts ein Kind. Sie können das Pferd nicht zum Stehen bringen. Das Kind stirbt. Die gute Zeit Ihres Lebens ist vorbei …

Ich wache auf und habe diese Gedanken. Ich, nicht Sie! In meinem warmen Bett. Bequem und nett. An der Seite meiner zauberhaften Frau. In unserem Bett. Bequem und nett.

Ich wache auf und denke an diesen Kerl, der unten an der Landungsbrücke unter einer Plane aus altem Segeltuch wohnt. Und die Stadt behandelt ihn wie Abschaum. Er ist nur ein Kerl. Er ist nur ein Kerl. Er ist nur ein Kerl. Er ist nur ein Kerl, der etwas wirr ist. Er ist wahrscheinlich ein einfacher Matrose. Weil er wie einer aussieht. Beinahe wie ich. Er sieht aus wie ich und will nur … er versucht nur … nur klarzukommen. Aber er vermag es nicht … er kann nicht … er kann … Er findet den Dreh … sozusagen … den … den … Schlüssel …

Er findet sich nicht mehr zurecht. Er kann das nicht mehr zusammenfügen. Aber selbstverständlich, und da bin ich sicher, gibt es Momente, Situationen, in denen er es beinahe schafft …

Oh, ich erinnere mich, wie es war, bevor geschah … Wer ich bin, erinnere ich … Ich weiß, dass ich nicht unten an der Landungsbrücke unter einem Stück verschlissenem Segeltuch wohnen muss, damit ich mich nicht töte … oder meine Frau …

Ein weiterer Tag vergeht. Ich liege in meinem Bett und weine. Wegen des Kindes oder des Matrosen. Oder wegen meines sterbenden Vaters.

Ha! Und mein Vater war kein guter Mensch. Aber am Ende wollte ich einen in ihm sehen. Ich wollte nur seine Hand halten. Verstehen Sie?!

War das von Anbeginn so? War das immer mein Problem? Ich stürze tief in die Komplikationen anderer Menschen. Oder, ich verliere meinen Verstand, wegen etwas, das nicht geschah. Vielleicht nie geschieht. Aber diese Sorge … Ich mache mir viele Sorgen. Unheimlich viele …

Es gibt Dinge, die sind so böse, da genügt es einfach, dass sie geschehen sind. Man muss sie nicht ein zweites Mal ins Leben rufen, indem man sie nacherzählt. So denke ich jedenfalls an manchen Tagen. An anderen Tagen denke ich das Gegenteil. Die Vergangenheit hat eine Zukunft, die wir niemals erwarten.

Seit langem schon macht es mir absolut nichts aus, zu wissen, dass ich jederzeit sterben könnte.

Ich könnte hinausgehen und in dem Moment, da ich den Vorplatz betrete, erschlagen werden. Das wäre völlig in Ordnung …

Und in letzter Zeit rieche ich es in der Luft, die mich umgibt. Als würde der Tod mir aus allen Winkeln dieses Raumes entgegenkriechen. Und ich weiß nicht, ob er mich wirklich holen will. Und ich kann nicht sagen, ob er wirklich wegen mir hier ist oder ob es nur ein Echo der Vergangenheit ist …

Mein Tag war sehr gut, wissen Sie? Wie ist Ihr Tag gelaufen?

“Mind The Gap” – doch Vorsicht vor den Fallen! – Eine kleine Dokumentation

Am 9. und 10. Januar 2014 fand im Deutschen Theater Berlin die Veranstaltung Mind the Gap. Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung statt. –  Eine Fachtagung des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim mit der Kulturloge Berlin .

Eine Veranstaltung, die in Konzeption und Durchführung exakt am selbstgesetzten Ziel vorbeischoß. Dazu hier diese Dokumentation verschiedener Texte …

“Sie haben mich nicht nur nicht eingeladen, ich wäre auch nicht gekommen!” Joachim Ringelnatz
Deutschland ist geprägt durch eine der vielfältigsten Kulturlandschaften Europas. Dennoch erreichen kulturelle Angebote vor allem der öffentlich geförderten Hochkultureinrichtungen nur einen kleinen, meist hochgebildeten und finanziell gut situierten Teil der Gesellschaft.

Worin bestehen die Barrieren der Nutzung (hoch-) kultureller Angebote bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen? Warum besuchen z.B. gerade junge Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund aus nicht westlichen Herkunftsländern, Menschen mit Behinderung und viele Menschen mit geringen Einkünften klassische Kultureinrichtungen besonders selten? Welchen Beitrag kann Kulturvermittlung leisten, um „Schwellen“ bei Menschen abzubauen, die bislang keinen Zugang zu kulturellen Einrichtungen gefunden haben? Welche Formen von Kulturvermittlung sind geeignet, öffentlich geförderte Kulturinstitutionen zu partizipativen und Gemeinschaft stiftenden Orten für ein vielfältiges Publikum zu machen?

Diese Fragen stehen im Zentrum unserer Tagung, zu der wir neben WissenschaftlerInnen auch MitarbeiterInnen kultureller und sozialer Einrichtungen sowie VertreterInnen der Politik herzlich einladen.

Kulturvermittlung moderiert nicht nur Annäherungs- und Verständnisprozesse zwischen künstlerischer Produktion und Rezeption, sondern kann Partizipation, kreatives Gestalten, ästhetische Erfahrungen und kulturelle Selbstbildungsprozesse anregen. Herkömmliche Formen der Kulturvermittlung wie Museumsführungen oder Publikumsgespräche erreichen vor allem ohnehin an Kultur Interessierte.Um neue BesucherInnen anzusprechen, müssen Formate von Kulturvermittlung entwickelt werden, die eine größere Reichweite in den Alltag einer vielfältigen Bevölkerung hinein schaffen können.”

Ankündigung auf der web-site des Deutschen Theaters Berlin

“Mind the Gap – In Berlin diskutierten Vertreter der Hochkultur darüber, wie die Kunst zum Volk kommen kann, ohne das Volk zu fragen

Warnung vor der Falle

von Esther Slevogt

Berlin, 11. Januar 2014. Das eindringliche Beispiel, wie schnell gut gemeinte Kulturvermittlung ihren kolonialistischen Januskopf entblößt, brachte am zweiten Tag der Konferenz “Mind the Gap” Alexander Henschel. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Universität Oldenburg berichtete von einem Versuch des Bozener Museums für Moderne Kunst, Kunst zum Volk zu bringen, wenn schon das Volk nicht zur Kunst kommt. Das sozial schwache, in der Bel Etage der Hochkultur gern auch als bildungsfern wahrgenommene Volk. Eines Tages waren freundliche Museumsmitarbeiter auf die Idee gekommen, auf der anderen Seite des Flusses Etsch (beziehungsweise Adige, wie er auf Italienisch heißt und Bozen alias Bolzano nicht nur in eine deutschsprachige und eine italienischsprachige Bevölkerung teilt, sondern auch eine soziale Grenze markiert) ein kleines Museumspendant zu errichten.”

Zum weiterlesen geht es hier lang >>>> http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&id=8952:mind-the-gap-in-berlin-diskutierten-    vertreter-der-hochkultur-darueber-wie-die-kunst-zum-volk-kommen-kann-ohne-die-zielgruppe-zu-fragen&Itemid=84

Hier heht es zum Video, daß die Intervention dokumentiert >>>> http://www.youtube.com/watch?v=JTN3WT4lAaY

Zur Evaluierung ihrer eigenen Veranstaltung fielen den Tagungsleiter_innen Birgit Mandel und Thomas Renz allerdings nur Platitüden, wie die folgende ein:

“Und Protest kam sehr massiv durch Störungen und Interventionen während der Tagung selbst von einer Gruppe junger Off-Theaterschaffender, die sich darüber beklagten, dass zu wenig „bunte“ Wissenschaftler eingeladen wären. Eine schwarze oder mindestens braune Hautfarbe sei Voraussetzung, um über Nicht-Besucher klassischer Kultureinrichtungen zu forschen.”

Das Bündnis kritischer Kulturpraktiker_innen reagiert so

auf diese Ausfälle Einlassungen von Frau Prof. Birgit Mandel und Herrn Thomas Renz vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim.

Abwehrreflexe oder die Unmöglichkeit der Verständigung zwischen Schwarzen und weißen Menschen, wenn es um Rassismus geht

Unter dem tag abwehrreflexe gibt es ja hier schon Einiges zu lesen. Dies ist ein weiteres Beispiel, warum ich daran zweifle, daß eine kritische Auseinanderstzung mit Alltagsrassismus und rassistischer und sonstiger diskriminierender Sprach- und Bildproduktion in absehbarer Zeit stattfinden wird.

An radioeins – rbb

Berlin, 10. November 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich verstehe nicht, wieso Sie eine Veranstaltung, die mit rassistischen Klischees arbeitet, unterstützen/ bewerben. Schaut man auf die Internet-Präsenz von ‘knorkator’, erscheint ‘radioeins’ dort als Medienpartner. Auf Ihrer Veranstaltungsseite gibt es die Ankündigung  für ein Konzert dieser Band am 17. Mai 2014.

In Titel und Beschreibung (einschließlich der “Illustration”) der Veranstaltung – Anlaß ist wohl die Veröffentlichung der neuesten CD von ‘knorkator’ – werden stupideste rassistische Klischees (re)produziert. Die Entwicklung/Erfindung derartiger Beschreibungen (in Wort und Bild) vor hunderten von Jahren diente nichts anderem, als die Kolonialisierung Schwarzer Menschen, die Vernichtung ihrer Kulturen und Religionen, ihres Wissens, ihrer materiellen und immateriellen Werte, ihres sozialen Selbstverständnisses zu rechtfertigen. Deportation, Zwangsarbeit, Mord und Völkermord waren und sind die Folgen dieser imperialistischen Expansionspolitik.

“Alles lange her.” “Get over it.” “Nehmen Sie’s mit Humor!” werden Sie antworten wollen. Vielleicht. Nur läßt die Realität das nicht zu. Rassistische “Witzchen” in Schulen, Kneipen, Büros, staatlichen Behörden auf Kosten Schwarzer Menschen und Menschen of Color gehören zum Alltag. Verhöhnung, Ausgrenzung aus sozialen Gemeinschaften, Verhinderung der Partizipation am kulturellen, künstlerischen Alltag ist immer noch strukturell verankert.

Schwarze Menschen und Menschen of Color leben in Deutschland (und im gesamten Europa) seit hunderten von Jahren und sind trotz der permanenten Unterdrückung integraler Bestandteil dieser Gesellschaften. Es ist üblich, Schwarze Menschen und Menschen of Color zu degradieren, mit enthumanisierendem Blick zu betrachten. Sicher. Nur sind die Folgen dieser Perspektive genauso bitter und blutig wie eh und jeh.

Sehr geehrte Damen und Herren, gehen Sie davon aus, daß wir uns nicht als Opfer stilisieren. Stolz und Würde sind davor. Aber empören werden sich viele, sehr viele immer wieder. So auch jetzt über die (Aus)Wahl der Veranstaltung die Sie als Redaktion eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks getroffen haben.

Aber warum diese (Aus)Wahl nicht überdenken.

Vielleicht hilft ihn folgende Literatur- und Linkliste dabei.

http://www.deutschland-schwarzweiss.de/
http://www.whitecharity.de/
http://blackpeopleloveus.com/
http://vasundharaa.tumblr.com/post/31917466176/this-is-a-resource-post-for-all-the-good-white
http://kendike.wordpress.com/2013/06/13/inflationierung-von-rassismus-schafft-ihn-nicht-ab/
http://www.derbraunemob.info/deutsch/index.htm
http://www.gegen-die-schwerkraft.de/shop/books/micosse
http://www.kas.de//db_files/dokumente/zukunftsforum_politik/7_dokument_dok_pdf_177_1.pdf?040415180721

Des weiteren all die Texte, Theaterstücke, Gedichte, Essays von Susan Arndt, Toni Morrison, May Ayim, Angela Davis, Joshua Kwesi Aikins, (sogar) Tim Wise, Dr. W.E.B.Du Bois, Wole Soyinkas, Philip Kabo Koepsel, Prof. Dr. Maisha-Maureen Eggers, Prof. Grada Kilomba, Sharon Ooto, Frantz Fanon …

Selbstverständlich freue ich mich über eine Antwort von Ihnen.
Hochachtungsvoll

Berlin, 11. November 2013

Sehr geehrter Herr Hussein,

danke für Ihre mail. Bei Knorkator handelt es sich um eine aus dem alternativen, linken Szeneumfeld stammende, satirische  Berliner Rockband. Entdeckt und gefördert wurden Knorkator u.a. von Rio Reiser und Rod Gonzales (“Die Ärzte”). Die band stand und steht nie im Veracht, reaktionär oder rassistisch zu sein oder zu handeln.

Das neue Album basiert auf dem Kinderbuchklassiker “Der Struwelpeter” von Heinrich Hoffmann. Das Artwork lehnt sich an die Illustrationen der Original – Ausgabe an. Mit Rassismus hat das aus unserer Sicht nichts zu tun.

Die Band bezieht auch Stellung und unterstützt beispielsweise das “Anti-Nazi Festival “Jamel rockt den Förster” mit 5 % ihrer Einnahmen.

Ich möchte Sie daher freundlichst bitten, Ihren Standpunkt noch einmal zu überdenken und verbleibe mit den besten Grüßen,

Peter Radszuhn
Musikchef

radioeins – rbb

Berlin, 15. November 2013

Sehr geehrter Herr Radszuhn,

vielen Dank für Ihre schnelle Antwort.

Ich brauchte etwas Zeit.

Sie bitten mich, meinen “Standpunkt noch einmal zu überdenken”.

Nun, schon so lange ich denken kann, denke ich darüber nach, warum ich von Menschen in meiner Umgebung “Mohr”, “Mohrle”, “Neger”, “Nigger”, “Dachpappe”, “schwarzes Schwein (oder auch Sau, je nach dem)”, “Kanake”, “Kamelficker” … genannt werde. Und das von den “buddies” im Kindergarten, den Mitschüler_innen aus meiner Klasse, während des Studiums dann von “meinen” Kommiliton_innen und später von Kolleg_innen bei der Arbeit … Dabei habe ich einen schönen Namen, wie ich finde. Ich habe ihn mir von meinem Vater übersetzen lassen, da ich nie gelernt hatte, arabisch zu sprechen. Atif bedeutet ‘Der Gütige’ oder auch ‘Der Liebe Gebende’. Gut, das wissen die wenigsten, die nicht arabisch sprechen oder sich mit den sogenannten ‘Neunundneunzig Namen von Allah’ auskennen. Geschenkt. Aber an diesem Unwissen, dachte ich dann irgendwann, kann es wohl nicht liegen, daß Menschen lieber eines der oben aufgeführten Worte benutzen, anstatt mich bei meinem Namen zu nennen.
“Mohrle”, so dachte ich, heißen Katzen im Kinderlied. “Ruhig, Brauner”,
so dachte ich, raunt man unruhigen Pferden zu. Meine Mutter fragte ich, als ich aus dem Kindergarten kam, warum mich die anderen Kinder immer ‘Jäger’ rufen. Ich war fest überzeugt, kein Jäger zu sein. Sie konnte es mir nicht erklären. Heute weiß ich warum.

Als ich anfing, selbst zu lesen, fand ich einige dieser Wörter wieder. In Kinderbüchern. In Jugendbüchern. In Geschichtsbüchern. In Biologiebüchern. In Theaterstücken. In Zeitungen und Zeitschriften …
Dann kamen die Bilder. In Büchern, Comics, Filmen: Seltsam schwarz geschminkte Menschen mit Knochen in den Perücken, knallrot angemalten Lippen, weit aufgerissenen Augen, Baströckchen … Selten sprechen sie und wenn, dann haben sie eine eigenartige Diktion, beherrschen die deutsche Grammatik nicht wirklich und verhalten sich auch sonst irritierend auffällig (Wie jüngst Günter Wallraff in seinem “Dokumentarfilm” ‘Schwarz auf Weiß – Eine Reise durch Deutschland’) …

Es ist noch nicht allzu lange her, da meinte ein Bekannter mit dem ich zusammen in der U-Bahn fuhr, als wir an der Station MOHRENSTRASSE hielten: “Ey, deine Station! Hier mußt du ‘raus!” Ich habe ihm nicht erklärt, daß die Straße (und damit die Station) ihren Namen daher hat, daß hier aus ‘Groß Friedrichsburg’, einer kurbrandenburgischen Kolonie in West-Afrika, deportierte Schwarze Menschen ‘wohnen’ mußten.

>>> “Friedrich Wilhelm I. ließ sich neben den 72.000 Dukaten, die er von den Niederländern für Groß Friedrichsburg erhielt, zwölf junge afrikanische Männer nach Berlin schicken, die dort am königlichen Hof ganz unterschiedliche Dienste verrichten mussten. Einige von ihnen, die der preußische König gemäß dem zeitgenössischen Sprachgebrauch als “Mohren” bezeichnete, wurden als livrierte Lakaien ständige Diener seiner Kinder Wilhelmine und Fritz. Andere mussten als Trompeter und Trommler in der königlichen Militärkapelle mitmarschieren. Schließlich gab es aber auch noch Afrikaner, die dem König einen ganz besonderen Dienst erwiesen: Da er gern am Abend nach getaner Arbeit im Kreis seiner engsten Freunde und männlichen Familienmitglieder zur Entspannung Pfeife rauchte, hatten seine Schwarzen Bedienten ihm und allen anderen Teilnehmern seines “Tabakskollegiums” hin und wieder den dazu benötigten Tabak anzureichen. Dieses exotische Genussmittel war – noch bevor es über London und Amsterdam den Weg nach Berlin gefunden hatte – von versklavten westafrikanischen Landsleuten der preußischen “Hof-Mohren” geerntet, getrocknet und verpackt worden.” (aus Friedrich der Große und George Washington, Jürgen Overhoff) <<<

‘We Want Mohr’ mag sich, wie es die Verantwortlichen und wie Sie, Herr Radszuhn, es denken, auf Heinrich Hoffmanns Buch beziehen – richtig, es reproduziert die Illustrationen in diesem Buch. Aber, und das ist m.E. das Wesentliche, ‘We Want Mohr’ repräsentiert den unreflektierten Umgang mit der deutschen und europäischen kolonialen Vergangenheit und den, wie schon erwähnt, absolut unempathischen, degradierenden Blick auf Schwarze Menschen und Menschen of Color.

All die oben genannten Wörter, so auch ‘Mohr’, sind Fremdbezeichnungen – entsprungen einer Dominanzkultur, die es ablehnt, die Folgen ihres Handelns zu überdenken.

Herr Radszuhn, sicher behaupte ich nicht, daß ‘Knorkators’ Bandmitglieder Rassisten wären. Aber auch eine linke oder linksalternative Weltsicht bewahrt nicht davor, rassistische oder andere diskriminierende Sprache und Bilder zu benutzen. – Auch wenn es vom Absender nicht ‘so’ gemeint ist, kann es sehr wohl beim Adressaten ‘so’ ankommen.

Wenn es denn nun so ist, daß ‘Knorkator’ satirisch auf die Welt reagiert, sollten sie/Sie sich fragen, auf wessen Kosten diese “Witze” gemacht werden. – In diesem Fall, wie zu sehen ist, geht der “Witz” nicht auf eigene Kosten …

Herzliche Grüße

Hier noch ein paar links für vertiefende Lektüre:

http://www.unrast-verlag.de/news/271-rassismus-in-gesellschaft-und-sprache

Goodbye Europe! Hello Busek.

STEFAN SCHLÖGL > JOURNAL

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Europa, das zeigte das Bühnenstück “Goodbye Europe! oder: Wie ich den Mauerfall verpennte” im Wiener Palais Kabelwerk, dieses Europa kann wider Erwarten auch prickelnd sein. Nicht bloß ein Mantra, mit dem man sich permanent selbst vergewissert, dass es toll sei “Europäer” zu sein – und gleichzeitig mit blankem Entsetzen dabei zusehen muss, wie eine Bande von Geldproleten ohne Benehmen, Gewissen und Kinderstube (Irland!) diesen Kontinent ausweidet. Was hatten diese Menschen bloß für Eltern? Wer hat ihnen diese Gier anerzogen? Welche Schulen besuchten sie? Wo erlernt man diese Geilheit, sich die Taschen vollzustopfen? Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass ich den Fall der Mauer auch verpennt habe. Oder um genauer zu sein: Ich kann mit den Codes der Geschichtsschreibung, die dieses 1989 im kollektiven Gedächtnis eingebrannt hat, diesen Jubel- und Wiedervereinigungsszenen nichts anfangen. Ich weiß bloß, wie es kurze Zeit nach der “Wende” in Berlin, in Prag…

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Inflationierung von Rassismus schafft ihn nicht ab

ich bin umgezogen

„Über die Inflationierung der Bilder verschwinden sie.“ sagt Sebastian Baumgarten am Mittwoch im Haus der Berliner Festspiele während der Abschlussdiskussion zur “Blackfacing-Debatte”, die im Rahmen des Theatertreffens im Mai auf dem Blog des Festivals aufgeflammt war (hier mein Eintrag dazu und die Artikel auf dem TT-Blog). Im diplomatischen Stuhlkreis im Foyer der Berliner Festspiele diskutierten Vertreter_innen von Bühnenwatch und Sebastian Baumgarten, der Regisseur von der in die Kritik geratenen Inszenierung der “Heiligen Johanna der Schlachthöfe“.
 Aber von einer Diskussion kann kaum die Rede sein. Nach einleitenden Statements von Atif Hussein als Vertreter von Bühnenwatch und von Sebastian Baumgarten entstand ein faszinierend unproduktiver Abschlag von verhärteten Fronten. Konzeptionell war die Veranstaltung eingeteilt in zwei Teile: In der ersten von zwei Stunden sollte konkret anhand der Inszenierung der “Heiligen Johanna der Schlachthöfe” über die Verwendung des Blackfacing und anderen rassistischen Zeichen und Bildern gesprochen werden. Im zweiten Teil sollte…

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Der Gegenwert der Zeichen

von Esther Slevogt

Blackfacing in Sebastian Baumgartens “Johanna der Schlachthöfe” – In einer Sonderveranstaltung der Berliner Festspiele treffen Welten aufeinander.

 

Berlin, 12. Juni 2013. Statt des Podiums diesmal also eine Art Stuhlkreis in der Kassenhalle des Hauses der Berliner Festspiele. Das sei als Geste gedacht, dass man nicht von oben herab dozieren, sondern auf Augenhöhe diskutieren wolle, so der Journalist und Ex-Theatertreffenjuror Tobi Müller, der als Moderator angetreten war. Auf einem Tisch in der Mitte lagen griffbereit Mikrophone für jene bereit, die sich an der Debatte beteiligen wollten. Wobei sich bald herausstellte, dass Augenhöhe nicht per Sitzunordnung herstellbar ist, solange es keine grundsätzlichere Befragung von Strukturen und Machtverhältnissen gibt, die auch die Bedingungen der Möglichkeit von Hochkultur sind: und zwar die ihrer Finanzierung ebenso wie ihrer grundsätzlichen Formen und Kodierungen …

http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8261:blackfacing-in-sebastian-baumgartens-qjohanna-der-schlachthoefeq-in-einer-sonderveranstaltung-der-berliner-festspiele-treffen-welten-aufeinander&catid=101:debatte&Itemid=84

Die Revolution des Mainstreams oder: Wenn rassistische Stereotype mit Judith Butler gerechtfertigt werden. Ein Bericht zur Abschlussdiskussion der Juror_innen des 50. Theatertreffens

Die Revolution des Mainstreams oder: Wenn rassistische Stereotype mit Judith Butler gerechtfertigt werden. Ein Bericht zur Abschlussdiskussion der Juror_innen des 50. Theatertreffens

DER GUTE MENSCH VON SEZUAN

VON BERTOLT BRECHT / MIT MUSIK VON PAUL DESSAU
28. SEPTEMBER 2013 / PREMIERE / DEPOT 2

Der Himmel ist in Aufruhr. Interne Diskussionen um mögliche Fehler bei der Weltschöpfung veranlassen die Götter nach Jahrtausenden endlich, ihr Werk einer Revision zu unterziehen. Drei Abgesandte sollen die Beschaffenheit der Erde überprüfen. Doch selbst der scheinbar niedrigste Qualitätsstandard – ein einziger guter Mensch reicht dem himmlischen Komitee, die Existenz der Welt zu rechtfertigen – erweist sich als zu ambitioniert. Ernüchtert von den Menschen und vom mangelnden Reisekomfort zermürbt, treffen sie in Sezuan auf die junge Prostituierte Shen Te, die als Einzige bereit ist, die hohen Gäste aufzunehmen. Die Götter sind erfreut. Das Ende der Mission scheint nahe. Sie rühmen die Güte des Mädchens, statten es mit einem kleinen Kapital aus, zu verzinsen in guten Taten, und verabschieden sich eilig gen Himmel.
Der Mikrokredit ermöglicht es Shen Te, sich mit einem Tabakladen selbständig zu machen. Ihr bescheidener Wohlstand aber weckt Begehrlichkeiten. Als die Bitten ihrer Mitmenschen zu Forderungen werden und sie ihre Hilfsbereitschaft täglich hemmungsloser missbraucht sieht, erschafft sie sich ein kapitalistisches Alter Ego: einen Vetter Namens Shui Ta, in dessen Gestalt sie ihre eigenen Interessen durchzusetzen vermag. Immer häufiger kommt dieser Vetter zu Besuch, bis Shen Te, von ihrem lieblosen Verlobten Sun geschwängert und verlassen, in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht, ihn schließlich ganz von sich Besitz ergreifen lässt. Befreit von jedem moralischen Anspruch baut Shen Te als Shui Ta ihren kleinen Laden zu einem ausbeuterischen Tabakimperium aus. Je skrupelloser jedoch das Vorgehen ihres erfundenen Vetters, desto schmerzlicher wird die gütige Shen Te von den Menschen in Sezuan vermisst. Sie wittern einen Mord und bringen den Emporkömmling Shui Ta vor Gericht. Den Prozess aber leitet niemand anderes als die drei Götter. In ihrer Verzweiflung entdeckt Shen Te/Shui Ta ihnen das doppelte Spiel: »Gut sein zu anderen und zu mir konnte ich nicht zugleich.«

REGIE MORITZ SOSTMANN / BÜHNE CHRISTIAN BECK / KOSTÜME ELKE VON SIWERS / MUSIKALISCHE LEITUNG PHILIPP PLESSMANN / PUPPENBAU ATIF HUSSEIN • FRANZISKA MÜLLER-HARTMANN / DRAMATURGIE NINA RÜHMEIER