Verführungen besonderer Art

Kolumne: Grand Guignol im Opernhaus – Über den Zauber von Umbesetzungen

Wenn am Theater oder in der Oper kurzfristig eine Rolle umbesetzt werden muss, ist das Seufzen im Publikum meist groß: Läuft gleich jemand mit dem Textbuch über die Bühne? Wird gar “von der Seite” eingesungen? Dabei erscheint vermeintlich Bekanntes oft in ganz neuem Licht, wenn Text und Handeln auseinanderfallen.

Eine Person, meist ein Mitglied der Theaterleitung, tritt unmittelbar vor Beginn der Vorstellung vors Publikum und kündigt eine spontane Umbesetzung an. Das Haus will die Vorstellung, mitunter gar die Premiere retten. Soweit bekannt.

Das Fiebern beginnt. Im Saal und auf der Bühne. Wird es gelingen oder wird es der totale Reinfall und lenkt die Ankündigung nicht von der eigentlich erprobten Inszenierung ab? Meistens funktioniert es. Oft fällt gar nicht auf, das da jemand* spontan eingesprungen ist. Professionalität und Talent sei gedankt. Tatsächlich habe ich mich schon ab und zu gefragt, ob es des anfänglichen Hinweises überhaupt bedurft hätte. Sicher es zeugt von Respekt für die Kolleg*innen und das Publikum. Es bleibt aber auch dieses latente, ungute Gefühl: Wozu sieben Wochen proben, zwanzig Vorstellungen spielen, wenn sich dann eine*r die ganze Chose mal eben so aus der Lamäng über Nacht in Kopf und Körper hämmert?

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Ihr Knaben von Argos

Diesmal wird alles besser, haben sie gesagt. Anders, aber besser.
Aber es ist schlimmer. Anders, aber schlimmer.
Da ist diese intellektuelle Erstarrung, die alle erfasst zu haben scheint.
Mich eingeschlossen.
Und, ich würde gerne meine Fähigkeit, emphatisch zu sein, töten.
Schließlich muss ich in ein paar Tagen Weihnachten feiern.
Sonst kommt Knecht Ruprecht, verkleidet als bayerischer Ministerpräsident, und wirft mich aus dem Land.

Nie wieder, haben sie gesagt. Aber sie haben vergessen zu sagen, was.
Nie wieder Krieg, kann es nicht sein. Denn Krieg ist ständig.
Nie wieder sind die Juden schuld, kann es auch nicht sein. Denn die sind wieder schuld.
Fahrradfahrer haben Pause. Klimakleber auch.

Wie Leid auf Schuld und neue Schuld auf Leid
sich wuchernd forterbt, schildern jene alten,
überlieferten Geschichten …

Das hilft auch nicht.
Keine Katharsis.
Nur ein kompletter Zirkelschluss.

Die Bilder, still oder bewegt, töten nicht.
Weder die in Handydisplay-Größe noch die in Cinemascope.
Doch treffen sie, wie ein Schuss, den Nerv. Den letzten.

Die Theatermaschinen liefern Lärm, nennen es Musik, und Rauch, nennen es Bühnennebel.
Beim Einlass reichen sie Ohrstöpsel.
Zum Schutz, sagen sie.
Das Bier auf der Bühne gibt es gratis.
Fürs Koma zu wenig.
Die angekündigte Auslöschung findet nicht statt, hier.
Anderswo …

Sie jagen dir Lichtblitze ins Auge.
Als wäre das der Auftrag.
Wir quälen dich im Theater!
Anderswo …

Studenten reenacten den deutschen Januar 1935.
In der halben, westlichen Welt.
Quell des Universalismus. Der Aufklärung.
Hort der Demokratie.
Juden! Raus! Aus! Universitäten!
Den weißen Faschisten freuts.
Wäscht sich die Hände.
Der Rektor steht mit dem Rücken zur Wand.
Die Hände erhoben. Die Innenflächen weiß, nicht rot!

Der metallische Geschmack von Blut.
Wird im Theater durch Menthol ersetzt.

Schauspieler werden erschossen.
Anderswo …
Theater werden zerschossen.
Anderswo …
Arnas Kinder sterben.
Anderswo …

Doch noch ist alle Schuld nicht abgegolten.
Und schon am Morgen nach der letzten Schlacht
Steht gegen … steht gegen … steht Bruder auf gegen Bruder …

Das sei der Fluch!

In ihrem Streit sollen beide,
einer durch die Hand des andern sterben!

Und sie sterben. Beide. Einer durch die Hand des Anderen.
Brüder sind nicht mehr.

Ein Echo? Zurückgeworfen 2544 Jahre später?
Und nun zu euch, ihr Knaben von Argos,
euch soll, sobald ihr mannbar seid,
die Eroberung Thebens gelingen.
Doch wartet, bis der erste Bartflaum euer Kinn umschattet,
dann beginnt sofort ein frisches Heer in Argos auszurichten
und Thebens sieben Tore zu berennen.
Sie sollen schwer empfinden, dass die Brut der Löwen ausgewachsen,
die Zerstörer ihrer Stadt erstanden sind.
Die Epigonen wird die Nachwelt euch in der Hellenen Heldenlieder heißen.
Das ist der Lohn der gottgefäll’gen Tat. (ruft Athene).

Alles fällt in eins. Nicht nur die Toten in dasselbe Grab.
Alles ist Genozid. Alles Holocaust. Alles Nakba.
Nur Terror nicht. Der ist jetzt erhabener Widerstand.
Und grinst: Nicht nur uns töten wir, sondern auch andere, wenn es Not tut.
Und diese falsche Not frisst ihre Kinder. Ihre Ärzte. Ihre Journalisten.
Denn, diese falsche Not hat von Revolutionen nie gehört.
Auch auf der Bühne müssen alle untergehen.
Mit Mann und Fledermaus.
Verbleiben dürfen nur die Bienen!

Niemand der nicht ruft: I condemn! erhält den Preis.
Und muss den Tisch verlassen.
Die Herzkönigin schreit hinterher: Kopf ab!
Oder waren das die Jakobiner?

“Begeht nicht den gleichen Fehler wie wir”, warnte einer zaghaft.
Doch zu laut rauschte schon das Blut der Rache in den Ohren.
Diesmal wird alles besser, sagen sie.
Diesmal bleibt nur noch die Schuld. Für Leid ist keiner mehr da.
Zuletzt.
Neuer Marschbefehl! Baum kaufen! Aufstellen! Kerzen anzünden!
Für die Chanukkia gibt’s den Feuerlöscher!


Der Text verwendet Zitate aus einem neugeschriebenen Prolog zur “Antigone”-Fassung von Sœren Voima von 1996, aus der “Maßnahme” von Bertolt Brecht und aus “Die Hilfeflehenden” von Euripides.

Erstmals veröffentlicht am 19. Dezember 2023 auf nachtkritik.de

Sag mir wo Du stehst!

7. Oktober – 7. November 2023. Israel/Gaza. Ein Monat des Töten und Sterbens. Kein Ende in Sicht.

7. Oktober – 7. November 2023. Deutschland. Ein Monat des Streitens, wer was sagen darf, wer sich mit wem solidarisieren darf, wer sich wie zu positionieren hat. Irgendwo dazwischen deutsche Theater- und Kulturinstitutionen. Meistens schweigend. Und doch massiv von einer diffusen Öffentlichkeit unter Druck gesetzt, sich zu äußern.

Woher kommt dieses an Kunstbetriebe gerichtete, ungehaltene Drängen nach einem Solidaritäts- oder Gesinnungsbekenntnis? Und vor allem wer genau soll da sprechen? Die Intendantin, die Ensemblesprecher*innen, der Betriebsrat, Pressereferent*innen? Wer muss, wer darf?

11. Oktober. Abends. Berlin. Haus der Berliner Festspiele. Anlässlich der Vergabe der Theaterpreise des Bundes wusste eine laudatierende Jurorin sofort, da der erste Angriff der Hamas-Terroristen einem “Kulturfestival galt – einem Angriff auf die Kultur – ist das also ein Angriff auch hier auf uns.” Ernsthaft?!

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Mehr Mordsdramatik!

Im Londoner West End am St. Martins Theatre gibt es zum Ende jeder Vorstellung ein liebevolles Ritual. Ein Schauspieler tritt nach dem Applaus aus der Reihe an die Rampe und bittet das Publikum, das Geheimnis des Stückes nicht zu verraten und im Herzen nach Hause zu tragen. Ende der neunziger Jahre hatte ich die Gelegenheit dabei zu sein und folge dieser Bitte gern. Gegeben wurde Agatha Christies “Die Mausefalle”. Seit 1952 wird es (die Covid-Auszeit ausgenommen) ununterbrochen in London gespielt.

Verbrechen und Totschlag, vielverwendete Trope im Kanon der dramatischen Weltliteratur, meist als ultimative Zuspitzung menschlicher Konflikte. Mord als Taktik zum Erringen der Macht, als Rachefanal, aus purer Verzweiflung oder Fehlleitung.

Gute Krimis sind raffiniert, kompliziert und bieten ein endloses Arsenal komplexer Charaktere. Und Krimis kommen vielfältig daher: Thriller, Komödie, psychologisches Kammerspiel – und es muss nicht zwingend Tote geben. Dafür können wir auf dem Drahtseil über unseren eigenen Abgründen balancieren (oder es zumindest versuchen), können schamlos moralisieren oder über unsere eigene Erbärmlichkeit lachen und am Ende gibt es irritierenderweise oft etwas Tröstliches. Und es gibt sie aus allen geschlechterspezifischen und -unspezifischen Perspektiven erzählt, es gibt sie straight, es gibt sie queer, es gibt sie Schwarz und weiß, von gestern, heute, morgen.

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Am Ende regnete es zart Konfetti

4. Juni 2023. Ach, Herrjeh, deutscher Wald! Jedes Jahr wirst Du regelmäßig durchforstet. Das Wörterbuch kennt dafür einiges an Synonymen – ausdünnen, ausholzen, lichten oder auch absuchen, durchsehen, durchsuchen, durchwühlen. Baumbestände müssen planmäßig ausgeholzt, von minderwertigen Stämmen befreit werden. In weiten Teilen dieses reichen Landes geschieht das zweimal jährlich – im Frühling und Herbst. Nur in Bayern (war ja klar!) und in Berlin (war auch klar!) leisten sich die Landesregierungen lediglich eine einmalige Durchsicht des Unterholzes. Im Sommer!

“Nein, nein”, behaupten manche, “es geht doch nur darum, das alles mal auf etwas Bestimmtes hin kritisch durchzusehen, Überflüssiges zu entfernen, verstehen Sie?! Alte Vorschriften und dieses System von Vergünstigungen, dass …” Danke, hab verstanden!

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Leos Tune

Klar, im Spiel der Menschen auf einer Bühne geht es immer um die Menschen selbst, ihre Beziehungen zueinander und zu der sie umgebenden nichtmenschlichen Welt. Was sonst?! Und doch scheint die Furcht zu steigen, dass trotz thematischer Vielfalt und multipler Perspektiven der ästhetische und erzählerisch-dramaturgische Zugriff verarme.

“Das Vermächtnis” von Matthew Lopez in der Regie von Philipp Stölzl. Deutschsprachige Erstaufführung am Residenztheater in München ist möglicherweise so ein Fall. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen. Das Stück als Hommage an das “literarische Vermächtnis, den alternativen Kanon einer Gemeinschaft, die sich als Gay-Community zu erkennen gibt. – Ein Vermächtnis, in dem Freiheit und Schmerz untrennbar verbunden sind”. (Ewald Palmetshofer im Programmheft zur Produktion)

Zeit für Details …

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Nächtliches Fundstück

( … ) O Stunden in der Kindheit,

da hinter den Figuren mehr als nur
Vergangnes war und vor uns nicht die Zukunft.

(aus Rainer Maria Rilke: “Vierte Duineser Elegie”)

Vor Kurzem kam ich spät nachts von einer kleinen Reise zurück. Die Stadt schlief tief und fest, zumindest die Straße, in der ich wohne. Zehn Schritte vor dem Haustor musste ich abrupt stoppen. Da lag jemand. Oder etwas? Oder doch ein Mensch? In einem dieser peinlichen Junggesellen-Party-Kostüme – der ausgerechnet hier und jetzt seinen Rausch ausschlafen musste? Und hatte einer seiner buddies in einem Anflug von Fürsorglichkeit einen Regenschirm über ihn gespannt? Ich verharrte, bis sich in mir ein der Vernunft genügendes Bild zusammensetzte. Letztlich war es nur ein überdimensionierter Teddy-Bär, in einer dieser perfekten, für Berlin nicht untypischen Pop-up-Installationen.

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Wo die Köpfe rollen

28. Februar 2023. Wir klauen euch das hier jetzt alles. Nehmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Und alles, was wir hören und sehen können auch. Eure Paläste mögen verrammelt sein – doch, wo ein Wille, da ist ein Weg … Wir tragen es in unsere Kneipen, unsere Stuben, “umdüstert vom traulichen Dunkel des Tabakqualms” findet ihr uns: “Eine höchst anziehende Gesellschaft vor einer kleinen Bühne versammelt. Kutscher, Köchinnen, Kinder, Handwerksburschen, vorzüglich aber Mitglieder des Soldatenstandes und Studenten harren mit gespannter Neugier auf das Emporrollen des Vorhangs  …” (Anonym, Berliner Puppenspiel, 1835).

Neben einer Fülle an eigenen Erfindungen und Kreaturen, war das europäische Puppenspiel immer auch die buchstäbliche Piraterie an der Hochkultur.

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