“Der gute Mensch von Sezuan”Wenn die Puppen Trauer tragen

Shen Te wird von Annika Schilling, Magda Lena Schlott und Mohamed Achour geführt. (Foto: Lefebvre)
Schauspielstart in Köln: In “Der gute Mensch von Sezuan” ist die Prostituierte Shen Te lebendiger Beweis dafür, dass die materiellen Verhältnisse ein moralisches Leben verhindern.
Es ist ein Schauspiel mit Puppen.
Von Hartmut Wilmes, 30.09.2013, Köln.
Wenn Shen Te tanzen will, kann sie das nicht allein. Man muss ihre Arme anmutig in die Luft heben und ihre Beine im Takt überkreuzen, denn Shen Te ist eine Puppe. Doch wenn sie dann tanzt, vergisst man ihre menschlichen Helfer und fühlt sich wie in Wong Kar-wais Melodram “In the Mood for Love”.

Derart traumhafte Momente traut wohl nicht jeder Brechts Lehrstück “Der gute Mensch von Sezuan” zu. Darin ist die Prostituierte Shen Te lebendiger Beweis dafür, dass die materiellen Verhältnisse ein moralisches Leben verhindern. Die zur Erde gesandten Götter sind zwar erfreut, dass sie ihnen als einzige ein Nachtlager anbietet und sehen darin den Beweis für die Richtigkeit ihrer Schöpfung. Mit ihrem Lohn kauft sich Shen Te einen Tabakladen, wird jedoch bald von Sezuans Hungerleidern derart zur Ader gelassen, dass sie einen strengen Vetter namens Shui Ta erfindet, um ihren schwindenden Wohlstand zu schützen.

Regisseur Moritz Sostmann, einst in der DDR mit Brechts Botschaften traktiert, treibt dem Stück im Depot 2 ebenso poetisch wie komisch alles Doktrinäre aus. Wunderbar, wie der verhinderte Flieger (Mohamed Achour) im nur per Gartenschlauch erzeugten Regen Selbstmord begehen will, brüllend komisch, wie sich das Lumpenproletariat im Müllcontainer um die besten Plätze balgt. Diesen derb typisierten Handpuppen von Franziska Müller-Hartmann stehen die fein gearbeiteten Menschenpuppen Atif Husseins gegenüber: Wasserverkäufer Wang, dem sich der Gram ins Gesicht gekerbt hat, die traurig-schöne Shen Te, ihr eleganter “Vetter” oder die mondäne Mutter des Fliegers. Sostmann bricht sekundenschnell die Stimmung: von knalliger Karikatur in tiefste Verzweiflung. Dass die Puppen hier sichtbar von Menschen geführt werden, schafft einen Kokon des Kümmerns und einen ganz eigenen Zauber.

Und Sostmann zeigt eben kein Puppenspiel, sondern ein Schauspiel mit Puppen. Magda Lena Schlott führt nicht nur (unterstützt von ihren Kollegen) Shen Te, nein sie verwandelt sich später auch in den “Engel der Vorstädte”. Und sie setzt als schlank-eleganter Shui Ta (der erst spät auch als Puppe auftritt) den strengen Kontrapunkt zur selbstmörderischen Güte. Puppen werden Menschen und ungekehrt – das alles spielt sich im unbehauenen Industrie-Ambiente von Christian Becks Bühne in Windeseile ab. Die Kostümwechsel im Halbdunkel verlangen äußerste Präzision, denn hier sind alle als wispernde Götter und in etlichen anderen Rollen gefordert. Annika Schilling überzeugt als Schlampe und kapriziöse Maklerin, Philipp Plessmann ist nicht nur einer der “Erleuchteten”, sondern steuert die Arrangements der Songs von Paul Dessau bei.

Einsame Klasse: Stefko Hanushevsky, der allein im Turbo-Requisitenwechsel mit Brille, Pappnase und Schirmmütze drei Charaktere glaubhaft macht – bravourös. Dieses äußerlich arme Theater erzeugt seinen inneren Reichtum mit klugen Einfällen und verblüffenden Coups wie Shen Tes geplatzter Hochzeit im Carlswerk-Foyer. Einziges Problem ist die Akustik im Depot, denn gerade die (etwas zu oft) geschrienen Dialage verhallen als Klangbrei.

Dennoch gewinnt Sostmann dem “Weihnachtsmärchen für sentimentale Weltrevolutionäre” (Georg Hensel) eine ungemein bildstarke, sinnliche Aufführung ab, die für den Revolutionsauftrag am Schluss nur Spott übrig hat. Nach gelinde enttäuschendem Auftakt deutet Kölns Schauspiel mit der zweiten Premiere an, wohin die Reise gehen kann. Begeisterter Beifall, Bravi.

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